Glocken bringen Türme in Schwingung
Die Kirchtürme unserer Basilika St. Cyriakus in Duderstadt sind nicht gefährdet. Das haben spezielle Messungen ergeben. Nach dem Glockengeläut in der Silvesternacht waren Bauschäden aufgetreten.
Bis Professor Wolfram Kuhlmann alle nötigen Berechnungen für sein Gutachten erstellt hat, werden noch einige Wochen vergehen. Ein erstes Zwischenergebnis konnte der öffentlich bestellte und vereidigte Bausachverständige für Baudynamik, Erschütterungen und Schwingungen nach stundenlangen Messungen bei einem Pressetermin geben. Fest steht, dass das Läuten der sechs Kirchenglocken die 65 Meter hohen Türme von St. Cyriakus zwischen drei und fünf Millimetern in der Sekunde schwingen lässt. Das entspricht der zulässigen Obergrenze.
Je nach Auswertungsergebnis muss die Gemeinde, die seit Silvester auf das volle Geläut verzichtet, jedoch Konsequenzen ziehen. Gegebenenfalls hat sie ihre Läuteordnung anzupassen. „Manchmal ist nur eine Glocke problematisch“, sagte der Professor, der an der Technischen Universität Köln lehrt. Abhilfe kann eventuell das Ändern des Läutewinkels oder das Anbringen von Gegengewichten an den Glockenjochen verschaffen.
„Die Einschätzung von Schwingungen ist ein komplexes Thema, das nur wenige Experten in Deutschland beherrschen“, erklärte Kuhlmann. Er hat in Duderstadt gemeinsam mit einem Mitarbeiter, Bauingenieur Roman Klik, in beiden Türmen Sensoren installiert. Dann ließen sie die verschiedenen Glocken einzeln und zusammen erklingen, erst in einem Turm, dann im anderen. Schließlich ertönte das volle Geläut.
„Gefährlich wird es vor allem dann, wenn die Glocken-Schwingungen mit den Eigenschwingungen der Türme in Resonanz gehen und diese aufschaukeln“, führte der Professor aus. Denn auch aufgrund des Winds bewegen sich die Türme. Um diese charakteristischen Eigenschwingungen zu ermitteln, drückte Kuhlmann im Rhythmus, den ein Metronom vorgab, gegen die Wände der Glockenstube. Durch dieses Aufschaukeln mit Muskelkraft brachte er die Türme dazu, sich mit 0,4 Millimetern in der Sekunde zu bewegen.
Organist darf weiter alle Register der Creutzburg-Orgel ziehen
Anlass für die Messungen war ein lauter Knall nach dem Mitternachtsgeläut zu Silvester. „Ich hörte Glas splittern und Gestein herunterfallen“, erinnerte sich Propst Thomas Berkefeld. Am Neujahrsmorgen stellte ein Architekt das ganze Ausmaß des Schadens fest. Buntglas-Elemente eines Fensters im Nordschiff waren kaputt gegangen. Im Gewölbe klaffte ein mehrere Zentimeter breiter Riss. Mörtel war herausgebrochen. Die daraufhin vorsorglich angeordnete Sperrung der Empore wurde vom hinzugezogenen Statiker jedoch wieder aufgehoben. Auch der Organist darf weiter auf der renommierten Creutzburg-Orgel alle Register ziehen.
„Dass es in alten Bauwerken zu Rissen im Mauerwerk kommt, ist aufgrund von Setzungen nicht ungewöhnlich“, betonte Professor Kuhlmann. Die ältesten Teile der Duderstädter Kirchtürme stammen immerhin aus dem 13. Jahrhundert. Das Gebäude trotzte Kriegen, Bränden und Blitzeinschlägen. Lange Zeit stand nur noch der Nordturm. Erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts verfügt das gotische Gotteshaus wieder über Doppeltürme.
Weil manchmal das Schwingen der zum Teil tonnenschweren Glocken Schäden verursacht, wird Kuhlmann hinzugezogen. Jedes Jahr führt er in fünf bis zehn Kirchen Untersuchungen durch. „Jeder Turm ist anders“, erzählte er. Die Arbeit in den alten Bauwerken macht ihm Freude. Ihn begeistert die mittelalterliche Handwerkskunst mit ihren Steinmetzarbeiten und eindrucksvollen Balkenkonstruktionen in den Dachstühlen. Hinzu kommet der spektakuläre Ausblick, der sich aus den Turmfenstern bietet – von der Basilika aus etwa auf Duderstadts atemberaubend schöne, fast vollständig erhaltene Fachwerk-Altstadt.
Viel Geld, so der Sachverständige, verdiene er mit seinen Kirchturm-Gutachten allerdings nicht. Aufträge von Versicherungen seien deutlich lukrativer. Das müssten sie auch sein, stellte der Professor mit Blick auf seine 35.000 Euro teure Ausrüstung klar.
Michael Caspar / kpg / kiz